Nutzung von PPQ in anderen Arbeitsfeldern

am Beispiel der Behindertenhilfe

Grundsätze und die Architektur von PPQ lassen sich auf das Arbeitsfeld der Behindertenhilfe übertragen. Dabei sind einige Besonderheiten zu beachten, die aus der Erfahrung der Stiftung Das Rauhe Haus, Hamburg und des Bodelschwingh-Hof Mechterstädt e.V. verdeutlicht werden.

Der Empowerment-Ansatz in der Behindertenhilfe

Unterstützung von Menschen mit einer geistigen oder Mehrfachbehinderung zur Teilhabe an der Gesellschaft steht immer im Spannungsfeld zwischen Assistenz zur Selbstständigkeit und Selbstbestimmung und gleichzeitiger Schutz der Menschen mit Behinderung von Risiken.

Die Grundhaltung der Mitarbeitenden und die damit verbundene Orientierung am christlichen Menschenbild sind auch hier die entscheidende Voraussetzung für gelingende Entwicklungen. Hilfreich erweist sich dabei der Empowerment-Ansatz.

Der Empowerment-Ansatz betrachtet den Menschen mit Behinderung als kompetenten Experten in eigener Sache, als Akteur der eigenen Entwicklung. Darin unterstützen, assistieren und begleiten ihn professionell Helfende. Ihr Blick konzentriert sich auf die individuelle Lebenssituation, die individuellen Ressourcen,soziale Unterstützungsformen und -systeme. Ziel ist die größtmögliche Selbstbestimmung – nicht zu verwechseln mit Selbstständigkeit, denn auch für Menschen mit stark eingeschränkter Selbstständigkeit trifft dieses Ziel zu. Dabei muss immer wieder überprüft werden, welche Form der Unterstützung benötigt wird, welche zunächst noch gegeben werden muss, um Autonomie zu fördern. Welche Unterstützung kann wegfallen zugunsten von mehr Autonomie? Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu fördern kann unter Umständen auch bedeuten, sie zu befähigen, Gewohntes zu verlassen und Schritte in eine zunächst neue, fordernde Umgebung zu gehen. Die Gratwanderung zwischen Ermutigung zum selbstbestimmten Handeln und Beachtung des Rechts auf Schutz und Sicherheit stellt hohe Anforderungen an die Sensibilität und Professionalität aller Beteiligter, die auch in der Hilfeplanung von Bedeutung sind.

Hilfeplanung und Hilfegestaltung

Im Kapitel 3.1 wird auf die Grundsätze von Hilfeplanung und Hilfegestaltung ausführlich eingegangen. Ein damit vergleichbares Vorgehen findet sich in der Behindertenhilfe. Die Kompetenzen, Wünsche und Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer werden erfasst, es werden Ressourcen und Einschränkungen beschrieben und daraus notwendige Schritte abgeleitet, die mit geeigneten Methoden, Verantwortlichkeiten und Zeitressourcen unterlegt werden. Eine konsequente Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer sowie ihrer wichtigsten Bezugspersonen an der Hilfeplanung ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung. Dokumentation und Evaluation sind notwendige Bestandteile des Verfahrens.

Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer

Selbstbestimmung von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu achten ist damit verbunden, sich immer wieder bewusst zu machen, dass ein großer Teil dieser Menschen nicht lesen und schreiben kann und von daher Informationsdefizite bestehen können. Dies führt dazu, dass Nutzerinnen und Nutzer weder über ihre Rechte noch über Beteiligungsmöglichkeiten Bescheid wissen und sie folglich auch nicht wahrnehmen können.

Wichtige Voraussetzung für die gelingende Teilhabe der Nutzerinnen und Nutzer ist es deshalb, u. a. Informationen in leicht verständlicher Sprache zu vermitteln bzw. das Material in leicht verständliche Sprache oder Bildersprache zu übersetzen. Informationen in ein Aufnahmegerät zu sprechen und sie anschließend auf CD zu brennen kann ein weiteres Hilfsmittel sein, um zu informieren (z. B. Protokolle von Sitzungen, an denen Nutzerinnen und Nutzer beteiligt sind, die nicht lesen können).

Die folgenden Empfehlungen und Beschreibungen basieren auf der Arbeit des Nutzer-Qualitätszirkels der Stiftung Das Rauhe Haus in Hamburg.

Mit welchem Verfahren die Auswahl der Teilnehmenden am Nutzer-Qualitätszirkel vorgenommen wird, entscheidet jede Einrichtung für sich. Im Rauhen Haus wurden anfangs Mitglieder der Beiräte des ambulanten und des stationären Bereichs, die ihr Interesse zur Teilnahme bekundet hatten, von den Beiräten in den Qualitätszirkel delegiert. Die Mischung aus Teilnehmenden, die ambulant unterstützt werden, und Teilnehmenden aus stationären Einrichtungen wird von den Nutzerinnen und Nutzern gewünscht und als sehr positiv gewertet.

Es ist zu empfehlen, dass die Mitglieder des Qualitätszirkels über einen längeren Zeitraum (mindestens vier Jahre) zusammenarbeiten. Die Anforderung, nicht nur die eigenen Themen einzubringen, sondern die Dienstleistungsqualität der gesamten Einrichtung gemeinsam zu verbessern, ist sehr hoch. Gefördert wird dies, wenn die Teilnehmenden wissen, dass die anderen Nutzerinnen und Nutzer, die Mitarbeitenden und die Leitung regelmäßig über die Ergebnisse informiert werden (Protokolle). Im Rauhen Haus wird der Nutzer-Qualitätszirkel bei den Treffen regelmäßig mit einer Video-Kamera gefilmt. Selbstverständlich muss hierfür vorher die Genehmigung der Teilnehmenden eingeholt werden. Die DVD wird dann über die Leitungskräfte an die Mitarbeitenden, Nutzerinnen und Nutzer verteilt.

Die eigene Meinung zu vertreten, ist für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten eine weitere Herausforderung. Sie haben seit früher Kindheit erfahren, dass andere Menschen wissen, was für sie gut ist. Moderierende eines Qualitätszirkels der Nutzerinnen und Nutzer müssen sich stets der Möglichkeit bewusst sein, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung sich stark an den Meinungen von nicht behinderten Menschen orientieren, vor allem dann, wenn sie ihnen  vertrauen. Die Moderierenden müssen auch bei Informationen, die sie geben, immer darauf achten, nicht die eigene Meinung in die Information einfließen zu lassen. Die wertschätzende Haltung der Mitarbeitenden und das Ermutigen, den eigenen Standpunkt zu finden und zu vertreten, sind sowohl im alltäglichen Unterstützungsprozess als auch im Qualitätszirkel Voraussetzungen für eine konstruktive Zusammenarbeit.

Wichtig ist es auch hier, dass Moderierende eine einfache Sprache verwenden. Die Nutzerinnen und Nutzer werden ermutigt zu unterbrechen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Kleine Rituale wie z. B. ein Schild mit »Stop, bitte leichte Sprache« haben sich als hilfreich erwiesen.

Im Qualitätszirkel der Nutzerinnen und Nutzer werden sowohl die von ihnen eingebrachten Themen besprochen und Qualitätsindikatoren erarbeitet als auch die von den Mitarbeitenden entwickelten Standards bewertet. Bei Interessenkonflikten werden die unterschiedlichen Sichtweisen auf einem Treffen von Nutzerinnen, Mitarbeitenden und ggf. der Leitung diskutiert und ein gemeinsames Ergebnis ausgehandelt.

Die Einbeziehung der Nutzerinnen und Nutzer in die Qualitätsentwicklung und vor allem die in den Qualitätszirkeln erarbeiteten Ergebnisse, die aufzeigen, dass die Menschen mit Lernschwierigkeiten immer mehr Selbstbewusstsein und Kritikfähigkeit entwickeln, werden von den Mitarbeitenden als sehr positive Rückmeldung an ihre Arbeit und ihre Haltung den Nutzerinnen und Nutzern gegenüber gewertet.

Beteiligung der Angehörigen

Angehörige von Menschen mit Behinderungen erwarten von unterstützenden Systemen, dass ihre Autonomie gewahrt wird, ihre Bedürfnisse wahrgenommen und anerkannt und die Menschen mit Behinderungen adäquat begleitet werden. Eine Herausforderung für professionelles Handeln ist es, die oftmals engen Familienbeziehungen in ihrer Entwicklung zu begleiten, Selbstständigkeit auf beiden Seiten zu fördern und Ablösungsprozesse erwachsener Menschen aus der Familie zu unterstützen. Dabei ist die Angst der Angehörigen sehr ernst zu nehmen, dass der Mensch mit Behinderungen überfordert wird oder scheitern könnte. Ein einfühlsames Miteinander ist hier notwendig. Angehörige sind in ihrer häuslichen Situation oftmals allein gelassen, auch wenn die gesellschaftliche Sicht auf Eltern von Menschen mit Behinderungen eher von Mitgefühl geprägt ist. Sie sind in die Beschützerrolle hinein gewachsen und füllen diese auch in hohem Lebensalter noch aus.

Eine Haltung der Mitarbeitenden, die Angehörigen signalisiert, dass sie wichtige Partner im Prozess sind, fördert das Loslassen können. Schuldgefühle, weil man das eigene Kind doch nicht weggeben kann, führen häufig zu überfordernden Situationen. Für eine gelingende Ablösung ist die Einbeziehung der Angehörigen notwendig, z. B. orientiert am PPQ-Leitziel der Wahrung der Selbstbestimmung und der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit.

Trialogische Arbeit ist im Bereich der Behindertenhilfe noch wenig entwickelt. Entsprechende Angebote sind in den Einrichtungen und Diensten unterschiedlich etabliert. So haben die Betreuungskonferenzen, in denen die Hilfeplanung besprochen und verabschiedet wird, im Rauhen Haus eine lange Tradition. Hierzu werden, wenn der Nutzerinnen und Nutzer es wünschen, auch die Angehörigen eingeladen.

Anders als in der Sozialpsychiatrie haben sich in der Behindertenhilfe schon früh bundesweit sehr engagierte Elternverbände zusammengeschlossen, wie z. B. die Lebenshilfe. Deren Angebote reichen mittlerweile von konkreten Unterstützungsformen für Eltern über Fortbildungsreihen bis hin zur Trägerschaft von Einrichtungen und Diensten.

Gemeinwesenorientierung

Vergleichbare Verbünde von Trägern in der Region wie in der Sozialpsychiatrie haben sich bisher in der Behindertenhilfe nicht etablieren können.

Im Zuge zunehmender ambulanter Unterstützungsangebote und der Einführung des Persönlichen Budgets findet aber auch hier eine verstärkte Orientierung am Sozialraum und seinen Ressourcen statt. Konzepte wie Lebensweltorientierung und Community Living werden als Basis für professionelle Arbeit gesehen.

Auf der Grundlage dieser Konzepte wurde im Rauhen Haus ein breites Spektrum von Methoden entwickelt, um sowohl die Ressourcen des Stadtteils/des Quartiers zu nutzen als auch die individuellen Netzwerke der Nutzerinnen und Nutzer zu erhalten bzw. zu aktivieren.

Die im Kapitel 3.4 beschriebenen fachlich-methodischen Handlungsgrundlagen lassen sich auch auf die Unterstützung von Menschen mit Lernschwierigkeiten übertragen.

Im Bodelschwingh-Hof Mechterstädt e.V. ist z. B. die Mitarbeit in der örtlichen Kirchengemeinde ein wesentliches Einrichtungsziel. Dazu gehören die Öffnung der Einrichtungen für die Gemeindearbeit und die aktive Beteiligung der Menschen an der Arbeit in der Kirchengemeinde. Das Miteinander fördert das Verstehen und die gegenseitige Akzeptanz.

Organisations- und Personalentwicklung

Alle in den Kapiteln 3.5 und 3.6 und seinen Unterabschnitten beschriebenen Grundsätze lassen sich auf soziale und pflegerische Arbeitsfelder außerhalb der Sozialpsychiatrie übertragen. Natürlich ist bei einem solchen Vorgehen die Besonderheit der Zielgruppen (z. B. Kinder, Jugendliche, alte Menschen mit und ohne Pflegebedürftigkeit, Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen) zu berücksichtigen. Das gilt besonders bei der Auswahl geeigneter Methoden, der Sprache, der Wortwahl usw. Unabhängig davon sind die Leitziele von PPQ in allen genannten Arbeitsbereichen uneingeschränkt anwendbar.